Tim Habicht: Ist und war die Lage in Deutschland wirklich so schlimm wie sie medial häufig dargestellt wurde?
René Kerkhoff: Man muss unterscheiden, was in der Presse steht und wie die Unternehmen tatsächlich positioniert sind. Viele Unternehmen sind in Themenbereichen unterwegs, die nicht so zyklisch sind. Wenn man die Automobil-Industrie und Chemie-Branche außen vorlässt, die vor allem unter hohen Energiekosten leiden, hat Deutschland ein sehr starkes Fundament. Dieses Fundament geht nicht von einer politischen Initiative aus, sondern von den Leuten, die jeden Tag dafür arbeiten. Der Mittelstand, die Familien- und Inhaber-geführten Unternehmen, die zwar auch hart zu kämpfen hatten, haben sich aber in der Krise insgesamt gut positioniert. Wir Deutschen sind dahingehend immer etwas negativ eingestellt, das muss man als Fondsmanager aber ausblenden und sich auf Daten und Fakten konzentrieren. Dann findet man vielversprechende Unternehmen, die gute Ergebnisse erzielt haben. Es ist aber auch berechtigt zu sagen, dass Deutschland an einigen Stellschrauben noch drehen muss. Ich sehe darin aber auch eine Chance; denn deutsche Aktien sind immer noch so bewertet, als würde Deutschland den Bach runter gehen. Seit Jahresbeginn hat sich das zwar ein wenig gedreht, aber aus fundamentaler Perspektive liegt noch ein langer Weg vor uns.
Felix Gode: Mir wird das Ganze auch etwas zu schwarzgemalt. Ohne Frage wurden Fehler von politischer Seite gemacht, aber am Ende des Tages ist immer noch ein unfassbares Fundament vorhanden. Man darf nicht vergessen, dass Deutschland immer noch die drittstärkste Volkswirtschaft der Welt ist. Wir haben unglaubliche Stärken im Ingenieurwesen, im Robotik-Segment und auch in Bereichen, an die man nicht sofort denkt. Das ist über Jahrzehnte gewachsen und wird nicht von heute auf morgen verschwinden. Das ist Knowhow und das sind Produkte, die hier entstehen und weltweit weiterhin gebraucht werden. Die starke Konzentration, die sich an den US-Börsen, den ETFs und in den Indizes ergeben hat, ist natürlich vielen aufgefallen und einer der Gründe, warum das Geld dort wieder abfließt. Dass die Magnificent Seven gute Unternehmen sind, ist keine Frage und muss nicht diskutiert werden. In Europa verteilt sich das alles allerdings viel gleichmäßiger und breiter. Die großen deutschen Unternehmen sind langweilig, die Musik spielt im Mittelstand. Hidden Champions finden wir in Deutschland und Europa; darauf sollten wir uns konzentrieren.
Götz Albert: Wir haben einige Probleme, manche davon, wie beispielsweise die Bürokratie, sind durch Reform-Anstrengungen lösbar, andere aber nicht. Ein großes Thema, das Deutschland vor der Brust hat, ist die Demographie. Aus meiner Sicht ist es das größte Problem. Die Entwicklung von Arbeitskräften kann man am besten lösen, indem man die Erwerbsbeteiligung hochfährt. Wir haben zu viel Teilzeit in Deutschland und man muss das Rentenalter erhöhen und Menschen im Lesen und Schreiben qualifizieren. Zudem muss es eine gesteuerte Migration in den deutschen Arbeitsmarkt geben. Wir sehen den Arbeitskräftemangel in allen Ecken. Das ist ein großes strukturelles Problem, das ganz Europa hat. Small und Mid Caps haben da den Vorteil, flexiblere Angebote als Large Caps machen zu können und Flexibilität ist heute alles. Selbst wenn jetzt Änderungen im Bereich Demographie herbeigeführt werden, dauert es trotzdem 20 Jahre, bis sie merklich sind. Das führt aber auch zu Chancen, beispielsweise im Robotik-Bereich, auf den Unternehmen verstärkt setzen müssen, wenn sie keine Fachkräfte mehr einstellen können.
Markus Herrmann: Ich denke auch die ganze Diskussion ist medial gestaltet, hat aber auch einen wahren Kern. Es ist in Deutschland viel schiefgelaufen und es muss sich viel ändern. Die Frage ist aber immer, welche Konsequenzen politische Entscheidungen auf einzelne Unternehmen haben. Wenn ich in Deutschland hohe Energiekosten habe, aber ein Dienstleister beispielsweise kaum Strom verbraucht, hat das keinen großen Impact. Einem Unternehmen, das seinen Sitz in Deutschland hat, hier aber keine Umsätze macht, ist es egal, wie sich die Konjunktur in Deutschland entwickelt. Das sind die Abstrahierungen, die wir als Investoren machen müssen: Zu entscheiden, welche Unternehmen tatsächlich negativ davon beeinflusst werden und welche relativ unabhängig davon aufgestellt sind. Vieles wird über einen Kamm geschoren, es gibt aber ganz verschiedene Treiber und Unternehmen. Ich bin sicher, Deutschland wird sich nach oben entwickeln.
Habicht: Wird Deutschland von Investoren unterschätzt?
Herrmann: Ich denke mittlerweile schon. Man spricht häufig über eine angeblich längst vergangene Zeit, in der Deutschland die Lokomotive Europas war, aber so lange ist das nicht her. Das Thema Arbeitskräfte war bis vor vier Jahren in den Gesprächen mit Unternehmen das wichtigste. Es ist kein Fachkräftemangel mehr, sondern ein genereller Arbeitskräftemangel. Es war klar, dass dieses Problem nur noch extremer wird. In den letzten Jahren wurde das Thema von der Konjunkturschwäche überlagert, da Unternehmen einfach nicht mehr so viele Leute suchen. Es ist nicht lange her, als wir den Status einer Industrienation hatten, die ein Vorbild für viele andere Länder ist. Damals war es unvorstellbar, dass wir bei der wirtschaftlichen Dynamik hinter Italien, Spanien und Griechenland zurückfallen würden. Die Substanz ist aber nach wie vor da, Deutschland ist ein schlafender Riese. Auch die Lust, die Ärmel hochzukrempeln, ist da.
Habicht: Ist es wichtig, dass die US-Investoren dank europäischer Investitionspakete das Gefühl bekommen, dass sie in Europa wieder dabei sein müssen und in Europa wieder investiert wird?
Albert: Mit Sicherheit. Was die Amerikaner so unglaublich überrascht, ist, dass Deutschland vom Schwur nie Schulden machen zu wollen, abrückt. Die Rede von J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz war das Ende der Schuldenbremse. Die Amerikaner finden es faszinierend, dass wir auf einmal damit beginnen, zu investieren. Im Gegensatz zu Großbritannien, Frankreich und den USA können wir dieses Schuldenpaket glaubhaft in den Raum stellen, weil wir uns in den letzten Jahren nicht verschuldet haben. Zudem fangen die Deutschen und Europäer an, in ihre Verteidigung zu investieren. Darauf sollten wir nicht stolz sein, aber die USA werden Deutschland glauben, dass es die industrielle Kapazität für diese Maßnahmen hat. Meine persönliche Einschätzung ist, dass diese einzelnen Investitionsthemen als Katalysator für die gesamte Industrie wirken werden. Das kann viele Jahre tragen. Ich bin überzeugt, dass, selbst wenn morgen Frieden in der Ukraine eintreten würde, dieser Prozess nicht umkehrbar ist.
Habicht: Also wird die Breite der Unternehmen profitieren und nicht nur ausgewählte Rüstungsunternehmen?
Albert: Im Moment laufen die ausgewählten Rüstungswerte, weil sie in allen Baskets allokiert sind. Übrigens waren die US-amerikanischen Fondshäuser die ersten, die europäische Defense-ETFs mit massiven Mittelzuflüssen aufgelegt haben. Wir sehen jetzt ganz viele Unternehmen, die auf einmal sagen: „Wir haben auch schon immer Rüstung gemacht.“ Das tun sie, weil sie in spätestens zwei Jahren Fördergelder kassieren wollen und daher jetzt anfangen müssen, ihr Angebot zu zeigen. Natürlich waren viele Unternehmen bereits zuvor in diesem Bereich aktiv, haben es aber unter „Sonstiges“ verbucht.

Kerkhoff: Wir als Investoren müssen uns auch eingestehen, dass wir Unternehmen, die operativ gut performt haben, aufgrund von ESG-Bemühungen quasi dazu gezwungen haben, das Rüstungsgeschäft zu verkaufen. Das Sentiment hat sich gedreht und das ist der richtige Weg. Die Industrie in Deutschland hat definitiv die Firepower das zu liefern. Das Thema Schulden muss man im Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum sehen. Deutschland kann es sich erlauben Schulden zu machen; das Wirtschaftswachstum der USA hat in den letzten Jahren nur auf Schulden basiert. Deutschland ist zwar nicht stark gewachsen, hat dafür aber Schulden abgebaut. Das dreht sich jetzt und kann einen gewissen Impuls für die Gesamtmärkte geben.
Herrmann: Unter den G7-Staaten hat Deutschland das niedrigste Verschuldungsniveau im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Um zum nächsten Land, Großbritannien aufzuschließen, könnte Deutschland 1,8 Billionen US-Dollar ausgeben und wäre dann erst auf dem Stand des zweitbesten G7-Landes. Das zeigt, wie groß der Spielraum ist. Viele in der Bevölkerung haben bei den hohen Beträgen Schnappatmung bekommen, im Verhältnis zur Wirtschaftsgröße Deutschlands ist es das aber nicht. Andere Länder haben über Jahrzehnte eine bessere Infrastruktur aufgebaut und Deutschland muss jetzt aufholen. Das gesamte wirtschaftliche Ökosystem wird dann Rückenwind bekommen, obwohl man auf jahrelangen Gegenwind gepolt war und sich dementsprechend in Kosten und Strukturen optimiert hat. Ein schwieriges wirtschaftliches Umfeld im eigenen Land ist wie ein Höhentrainingslager für Sportler. Umso effizienter deutsche Unternehmen aufgestellt sind, desto besser können sie auf den Weltmärkten konkurrieren.
Gode: Das sehe ich absolut genauso. Wichtig wäre zudem, dass die bestehenden Hürden bei den Themen Digitalisierung und Bürokratie abgebaut werden. Das ginge alles etwas schneller. Momentan kann ich die Dynamik nicht einschätzen.
Habicht: Muss man Trump und Vance danken, dass sie durch ihr Benehmen diesen schlafenden Riesen geweckt haben?
Albert: Aus meinem Mund werden Sie nie hören, dass man Trump oder Vance danken muss. Wir kennen das Ende der Geschichte nicht. Wenn jemand so viele Dekrete durchsetzt, fällt eventuell auch mal die ein oder andere gute Idee dabei ab. Global gesehen wurde aber eine riesige Entwicklung losgetreten, die niemand einschätzen kann. Das hat auch große Auswirkungen auf Deutschland. Positiv ist, dass Europa sich vereint und sich nicht nur als Disneyland für Tourismus darstellt.
Herrmann: Die direkten Maßnahmen der US-Administration kann man kaum loben, aber die indirekten Effekte, die sie in Europa losgetreten hat, sind langfristig durchaus positiv. Als Trump erneut gewählt wurde, stand fest, dass Europa nur verlieren kann. Durch den Druck, der aufgebaut wurde, wurde Europa zum ersten Mal aus seiner Komfort-Zone herausgezogen und tatsächlich entstehen positive Dinge jetzt daraus. Beispielsweise wird das Thema Bürokratie jetzt massiv in der EU angegangen. Deutschland muss im Tandem mit den Entwicklungen auf der EU-Ebene funktionieren. Indirekt wurde die Möglichkeit für Europa losgetreten, sich jetzt selbstständig zu entwickeln.
Kerkhoff: Vor uns liegen noch viele Schritte, die gegangen werden müssen und die Unsicherheit überwiegt trotzdem. Ich denke schon, dass es für Europa per se langfristig eher positiv ist, aber wenn die USA in eine tiefgreifende Rezession rutschen, wird es auch für Europa holprig, egal was wir konjunkturell bewerkstelligen. Relativ gesehen sehe ich, dass sich Europa im Vergleich zum MSCI World oder anderen Ländern besser schlagen wird. Absolut gesehen könnten der Sommer und Herbst volatil werden und die Nebenwerte erst zum Ende des Jahres gestärkt werden.

Albert: Ich bin da grundsätzlich bei Ihnen und denke, dass es bis zum Jahresende noch mal schwieriger werden wird, aber es ist genau jetzt die Zeit, mit Investoren zu sprechen und zu zeigen, dass der Rahmen der Unternehmen für die nächsten Jahre noch funktioniert. Das ist eine Chance, Investoren an Bord zu holen.
Habicht: Sind die Investitionspakete, der Wille zu Reformen und der durch die USA ausgelöste Druck der Beginn einer goldenen Nebenwerte- und Europa-Rallye?
Kerkhoff: Ich glaube, wir stehen am Anfang einer sehr großen Chance, die wir seit Jahren nicht mehr hatten. Daher blicke ich positiv in die Zukunft, weil es viele Stellschrauben gibt, die positiv für die Zukunft gedreht werden können. Deswegen ist es wichtig, bei den eigenen Prinzipien zu bleiben. Wenn man jetzt investiert, sollte man einen Zeithorizont von drei bis fünf Jahren wählen. Der Zeitpunkt ist jetzt gerade allerdings wirklich gut.
Gode: Ich bin auch sehr optimistisch. Unabhängig vom Investitionspaket und den vergangenen drei Jahren Rezession, bewegt sich die Konjunktur auch in gewissen Zyklen. Ein Aufwärtszyklus würde ohnehin beginnen und wird durch die Maßnahmen der Bundesregierung jetzt befeuert. Die Voraussetzungen für attraktivere Wachstumszahlen sind richtig gut.
Herrmann: Wir haben viele Treiber und eine andere politische Agenda, sowohl auf der europäischen als auch auf der deutschen Ebene. Investitionsprogramme gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auf EU-Seite wird derzeit viel angestoßen, zum Beispiel der Green Industrial Deal, der aufgestockt wurde und die 500 Milliarden Euro an KI-Investitionen. Zudem haben wir die Themen Inflation, hohe Zinsen und Konjunkturabschwung hinter uns gelassen und befinden uns wieder auf gesunden Niveaus. Diese Treiber wirken nicht nur für eine Bärenmarkt-Rallye, sondern für viele Jahren, weil massive Summen re-allokiert werden. Dementsprechend optimistisch bin ich.
Albert: Wir werden sicherlich eine Überraschung nach vorne bemerken. Sollten die USA in eine Rezession rutschen, wird es ohnehin jedes Unternehmen merken und dann ist das halt so. Was mich positiv stimmt, ist, dass ein anderer Geist herrscht. Es geht wieder aufwärts!